OLG München – Weiterarbeit an Gutachten trotz Befangenheitsgesuch möglich! (Beschluss vom 26. März 2012, Az.: 1 W 260/12)

von Dr. Felix Lehmann, Vorsitzender Richter am Landgericht Kiel

Leitsätze der Entscheidung

  • § 47 ZPO findet auf Sachverständige keine Anwendung.
  • § 406 ZPO regelt nur, dass ein Sachverständiger wie ein Richter abgelehnt werden kann, ohne dass eine Verweisung auf § 47 ZPO erfolgt.
  • Eine analoge Anwendung ist auch nicht geboten, da die Tätigkeit eines Sachverständigen nicht mit der eines Richters vergleichbar ist.
  • Einem Sachverständigen steht völlig frei, ob er während eines laufenden Ablehnungsverfahrens intern an seinem Gutachten weiter arbeitet oder nicht.

Sachverhalt / Entscheidung

In einem Prozess vor dem Landgericht München I wurde ein Gerichtsachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Die Klägerin lehnte den Sachverständigen vor der Fertigstellung des schriftlichen Gutachtens wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Der Sachverständige nahm daraufhin zu dem Antrag Stellung. Das Landgericht wies nunmehr den Antrag im Beschlusswege zurück. Die gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde wurde von dem zuständigen Senat des OLG München knapp vier Monate nach der Entscheidung des Landgerichts zurückgewiesen. Nach Rückkehr der Akten vom Oberlandesgericht bat der Vorsitzende der zuständigen Zivilkammer des Landgerichts München I den Sachverständigen um zügige Fertigstellung des Gutachtens. Wenige Wochen später ging bei dem Landgericht das Gutachten des abgelehnten Sachverständigen ein. Auf Seite 1 wurde das Gutachten auf einen Zeitpunkt während des laufenden Ablehnungsverfahrens datiert. Ca. drei Wochen später lehnte die Klägerin den Sachverständigen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab und warf ihm vor, gegen das strenge Enthaltungsgebot des § 47 ZPO verstoßen zu haben. Wie sich aus der Datierung des Gutachtens ergebe, habe der Sachverständige während des laufenden Ablehnungsverfahrens an dem Gutachten weiter gearbeitet. Nach Eingang des erneuten Ablehnungsantrages gab der Vorsitzende der zuständigen Zivilkammer des Landgericht München I dem Sachverständigen die Gelegenheit, sich zum erneuten Ablehnungsantrag zu äußern. Nachdem innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme des Sachverständigen einging, wies das Landgericht München I den Befangenheitsantrag zurück und führte aus, dass es sich vollumfänglich den zutreffenden Ausführungen des Beklagtenvertreters anschließe. § 47 ZPO finde auf die Ablehnung eines Sachverständigen keine Anwendung. Auch gegen diesen Beschluss legte die Klägerin Beschwerde ein und vertrat die Auffassung, dass § 47 ZPO auch auf die Ablehnung von Sachverständigen anzuwenden sei und sich weder aus dem Gesetz noch der Kommentarliteratur ergebe, dass diese Vorschrift auf eine Sachverständigenablehnung nicht anzuwenden sei. Des Weiteren führte die Klägerin als zusätzlichen Ablehnungsgrund an, dass der Sachverständige weder zum ersten noch zu dem neuerlichen Befangenheitsgesuch Stellung genommen habe und weiter, dass der Sachverständige das Gutachten bis vier Monate nach Fertigstellung zurückgehalten habe. Das Landgericht München I half der Beschwerde nicht ab.

Die Beschwerde der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zur Begründung führte der zuständige Senat des Oberlandesgerichts aus, die von der Klägerin angeführten Ablehnungsgründe seien nicht geeignet, bei einer vernünftigen Partei Zweifel an der Unparteilichkeit des Sachverständigen hervorzurufen. Das Landgericht habe zu Recht ausgeführt, dass § 47 ZPO keine Anwendung auf Sachverständige finden könne. § 406 ZPO regle nur, dass ein Sachverständiger wie ein Richter abgelehnt werden könne. Eine Verweisung auf § 47 ZPO erfolge nicht. Eine analoge Anwendung sei auch nicht geboten, da die Tätigkeit eines Sachverständigen mit der eines Richters nicht vergleichbar sei. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der Sachverständige keine Amtshandlung und keine prozessleitenden Handlungen wie ein Richter vornehmen könne. Sofern der Sachverständige erfolgreich abgelehnt werde, sei sein Gutachten unverwertbar. Ansonsten könne es verwertet werden. Im Übrigen stehe es nach Auffassung des Senats einem Sachverständigen völlig frei, ob er während eines laufenden Ablehnungsverfahrens intern an seinem Gutachten weiter arbeite oder nicht. Insoweit die Klägerin dem Sachverständigen vorwerfe, zu den Befangenheitsgesuchen nicht Stellung genommen zu haben, stehe dieser Vorwurf nicht mit der Aktenlage in Einklang, da der Sachverständige sich zu dem ersten Befangenheitsantrag geäußert habe. Des Weiteren sei anzufügen, dass dem Sachverständigen nach wohl herrschender Meinung lediglich die Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem Ablehnungsantrag einzuräumen sei. Er sei jedoch nicht wie ein Richter verpflichtet, eine dienstliche Stellungnahme abzugeben. Dem Sachverständigen könne auch nicht vorgeworfen werden, dass er das möglicherweise früher fertig gestellte Gutachten erst nach Beendigung des Ablehnungsverfahrens, übersandt habe. Der Sachverständige sei damit lediglich dem von der Klägerin eingeforderten Enthaltungsgebot nachgekommen und habe während eines laufenden Ablehnungsverfahrens keine die Begutachtung betreffenden Schriftstücke zu den Akten gereicht. Der Senat könne daher diesen Ablehnungsgrund nicht nachvollziehen.

Sachverständigenpraxis

Eine hoch interessante und äußerst praxisrelevante Entscheidung, die zu dem Ergebnis kommt, dass Sachverständige trotz eines laufenden Ablehnungsverfahrens intern an ihrem Gutachten weiterarbeiten können. Dies hat den Vorteil, dass gerade in einem fortgeschrittenen Bearbeitungsstadium die angefangene Arbeit beendet werden kann, ohne dass der Sachverständige sich nach mehreren Monaten wieder in den Fall einarbeiten muss. Aus der Rechtsprechung der letzten Jahre lässt sich entnehmen, dass ein Zivilprozess durch ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit und ein nachfolgendes Beschwerdeverfahren ca. sechs Monate verzögert wird. Die interne Weiterarbeit an einem Gutachten trotz des laufenden Ablehnungsverfahrens kann helfen, diese Verzögerung etwas einzuschränken. Allerdings besteht dabei natürlich das Risiko, dass im Falle eines erfolgreichen Ablehnungsgesuchs, das durch ein grob fahrlässiges Verhalten des Sachverständigen verursacht worden ist, der Sachverständige seine Vergütung verliert. Auch die interne Weiterarbeit wäre dann umsonst. Wieso kommt in einem solchen Fall überhaupt ein Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen in Betracht? Es wäre doch auch möglich zu argumentieren, dass der angebliche Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 47 ZPO beide Parteien gleichermaßen betreffen würde, wie z. B. in dem Fall, in dem ein Sachverständiger zu einem Ortstermin keine der Parteien einlädt (vgl. z. B. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Dezember 2008, Az.: 8 W 57/08). Dem wäre jedoch entgegenzuhalten, dass die Weiterarbeit in einem solchen Fall als besondere Missachtung gegenüber der den Befangenheitsantrag stellenden Partei verstanden werden könnte. Dies gilt allerdings selbstverständlich nur dann, wenn man § 47 ZPO für entsprechend anwendbar auf Ablehnungsverfahren gegen Gerichtssachverständige hält.

Entscheidend für den Umgang des Sachverständigen mit Ablehnungsanträgen einer Partei ist vor allem der Zeitpunkt der Ablehnung. Die interne Weiterarbeit macht nur in einem fortgeschrittenen Bearbeitungsstadium Sinn. Interessant ist dabei beispielsweise die Frage, wie ein Sachverständiger mit einem Ablehnungsantrag während eines Ortstermins umgeht. Üblicherweise wird empfohlen, dass bei Ablehnungsanträgen vor Beginn oder in der Anfangsphase des Ortstermins der Termin abgebrochen wird oder der Sachverständige sich telefonisch mit dem zuständigen Richter in Verbindung setzt, um dessen Weisung einzuholen. Erfolgt der Antrag erst in der Endphase des Ortstermins sollte dieser gerade auch nach der vorliegenden Entscheidung des OLG München zu Ende geführt werden. Je sicherer der Sachverständige sich ist, dass der Ablehnungsantrag unbegründet ist und nur aus Gründen der Prozessverschleppung gestellt wurde desto eher sollte er den Ortstermin und/oder die interne Arbeit am Gutachten fortsetzen.

Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Entscheidung des OLG München nicht unumstritten ist. Im Jahre 1994 hat nämlich das Bundesverwaltungsgericht die entgegengesetzte Auffassung vertreten (Beschluss des BVerwG vom 9. August 1994, Az.: 6 B 34/94) und folgenden Leitsätze formuliert:

  • Gemäß § 47 ZPO hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten. Obwohl § 406 ZPO, der die Ablehnung des Sachverständigen regelt, nicht ausdrücklich auf § 47 ZPO verweist, kann davon ausgegangen werden, dass dieses gesetzliche Handlungsverbot auch für den Sachverständigen gilt.
  • Ein Verstoß gegen die in § 47 ZPO statuierte Wartepflicht wird durch die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs geheilt. Unabhängig davon, ob in Fällen dieser Art eine echte „Heilung“ des Verfahrensmangels gegeben ist, kommt damit jedenfalls zum Ausdruck, dass mit der rechtskräftigen Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs die Kausalität zwischen einer Verletzung der Wartepflicht und der späteren Sachentscheidung grundsätzlich zu verneinen ist.

Anders als die Entscheidung des OLG München ist die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur entsprechenden Anwendung des § 47 ZPO auf Gerichtssachverständige jedoch nur äußerst „dünn“ begründet. Im Ergebnis ist es aber auch nach dieser Entscheidung unschädlich, wenn der Sachverständige während eines laufenden Ablehnungsverfahrens intern an seinem Gutachten weiterarbeitet, wenn dem Ablehnungsgesuch im Ergebnis der Erfolg versagt bleibt.

Datum

28. Oktober 2014