Leitsätze der Entscheidung
- Es ist davon auszugehen, dass ein Sachverständiger beim Aktenstudium 100 – 150 Blatt je Stunde auswertet. Die benötigte Zeit ist abhängig von der Aufgabenstellung und der Zusammensetzung der Akten.
- Für die Ausarbeitung der gutachterlichen Beurteilung ist für jede Standardseite (2000 Anschläge) als benötigte Zeit eine Stunde anzusetzen.
- Für das Diktat des ausgearbeiteten Textes und dessen Korrektur ist eine Stunde für sechs Standardseiten anzusetzen.
Sachverhalt / Entscheidungen
In einem sozialgerichtlichen Berufungsverfahren erstattete der Sachverständige nach Aktenstudium (183 Seiten Verwaltungsakten und 286 Seiten Gerichtsakten), Untersuchung des Klägers und einer Recherche in der einschlägigen Literatur ein 22 Seiten langes Gutachten (33.427 Schreibmaschinenanschläge). Das Gutachten verzichtete auf die Wiedergabe des Akteninhalts. Die Ergebnisse der persönliche Befragung und der Untersuchung umfassten sechs Seiten, die Beurteilung und Zusammenfassung mit Diskussion der zum Teil fremdsprachigen Literatur erstreckte sich über zwölf Seiten. Mit seiner Kostenrechnung machte der Sachverständige eine Forderung von insgesamt 2.409,54 € geltend. Der Kostenbeamte kürzte diese Rechnung im Wesentlichen wegen überhöhter Stundenansätze auf 2.028,22 €. Hiergegen wandte sich der Sachverständige mit dem Antrag auf richterliche Festsetzung. Er machte geltend: Für das Aktenstudium würden üblicherweise 100 Seiten in einer Stunde abgegolten. Bei 469 Seiten Akten insgesamt seien 4,5 Stunden ein angemessener Ansatz. Die gutachtlichen Ausführungen würden sich über 12 Seiten erstrecken. Die Beurteilung habe einen Umfang von 21.738 Anschlägen, was bei einer Norm von 1.800 Anschlägen eine Stundenzahl von 12 ergebe.
Der Kostenprüfungsbeamte hielt an seiner Festsetzung fest.
Der Antrag war überwiegend erfolgreich (Beschluss vom 17.07.2009, Az.: L 1 SF 30/09 KO). Die Vergütung des Sachverständigen wurde auf 2.382,24 € festgesetzt.
Nach § 8 Abs. 2 JVEG richte sich die Entschädigung des Sachverständigen nach der erforderlichen Zeit. Nach diesem Gesetzeswortlaut komme es nicht auf die individuell tatsächlich aufgewandte Zeit an. Entscheidend sei, wie viel Zeit durchschnittlich und objektiv für die Gutachtenerstattung erforderlich sei. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass die vom Sachverständigen angegebene Zeit auch erforderlich gewesen sei. Dementsprechend beschränke sich der Kostenbeamte regelmäßig auf eine Plausibilitätsprüfung, indem er die angegebene Zeit mit den allgemeinen Erfahrungswerten vergleiche. Fallen die Angaben aus dem Rahmen, prüfe er, ob Besonderheiten des Falles den Ansatz rechtfertigen.
Nach diesen Grundsätzen seien für das Aktenstudium 4,5 Std. anzusetzen. Der Sachverständige habe ca. 470 Blatt Akten ausgewertet. Bei der Frage, wie viele Stunden normalerweise erforderlich seien, um 470 Blatt Akten auszuwerten, sei entscheidend, wie viele Blatt aus gutachterlicher Sicht für ihn interessant seien. Denn erfahrungsgemäß enthielten die Verwaltungs- und Gerichtsakten auch eine große Zahl von Seiten, die für die medizinische Fragestellung uninteressant seien und nach kurzem Anlesen überblättert werden könnten. Zwar sei jede Akte anders zusammengesetzt und eine allgemeingültige Zahl über die erforderlichen Stunden des Aktenstudiums könne nicht festgelegt werden. Dennoch habe sich im Lauf der Jahre herausgestellt, dass ein Sachverständiger zwischen 100 und 150 Blatt je Stunde auswerten könne. Bei einiger Erfahrung wüssten berufskundige Sachverständige, wo die für sie interessanten Fakten in den Akten zu finden seien. Bei einem punktuell ausgerichteten Aktenstudium werde eher eine Blattzahl von 150 je Stunde zu bewältigen sein. Starre Grenzen könne es nicht geben, wohl aber Anhaltspunkte, von denen Kostenbeamte und Gerichte nur in gut begründbaren Fällen abweichen sollten.
Bei der Frage, wie viele Stunden für die Ausarbeitung des Gutachtens und die Beantwortung der Beweisfragen üblicherweise nötig seien, ergebe sich die Schwierigkeit, die gelieferten Seiten in eine Standardseite umzurechnen. Erfahrungsgemäß würden nämlich die Seiten eines Gutachtens sehr individuell und oftmals mit sehr großzügigen Schriftbildern und Rändern gestaltet. Es sei daher erforderlich, eine Standardseite festzusetzen. Hierfür gehe der Senat von der heute leicht zu ermittelnden Anschlagszahl einschließlich der Leerzeichen aus. Die Standardseite sei linksbündig geschrieben. Sie habe in Anlehnung an die DIN 5008 rechts und links sowie oben und unten einen Abstand von 2,5 cm zum Blattrand. Der Zeilenabstand beträgt 1,5. Die Schriftgröße solle wegen der besseren Lesbarkeit 12 betragen. Hiernach gingen 34 Zeilen auf eine Seite. Die Zeile umfasse nach den Auszählungen des Senats ca. 60 Anschläge. Demgemäß umfasse eine Standardseite rund 2.000 Anschläge, sodass sich für die gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen elf Standardseiten errechnen lasse.
Im zweiten Schritt sei zu ermitteln, wie viel Zeit es in Anspruch nehme, elf Standardseiten gutachterliche Ausführungen zu verfassen. Das könne von der Schwierigkeit der Beweisfrage, von der Komplexität des Sachverhalts, vom Erfordernis und Umfang der Literaturauswertung und von anderen Faktoren abhängen. Daneben gehe der Senat nach seinen Erfahrungen davon aus, dass das Verfassen einer Standardseite einschließlich einer Literatur- oder Rechtsprechungsrecherche und deren Auswertung etwa eine Stunde daure.
Auch bei den Posten Diktat und Korrektur des Gutachtens sei nicht die Zahl der gelieferten Gutachtenseiten, sondern die Zahl der Standardseiten zugrunde zu legen. Bei insgesamt 33.427 Anschlägen betrage vorliegend die Zahl der Standardseiten 16,7. Bei Diktat und Korrektur sei es ebenfalls schwierig, den erforderlichen Zeitaufwand zu objektivieren. Denn dieser Aufwand hänge von der individuellen Diktierweise des Gutachters und den Fähigkeiten der eingesetzten Schreibkraft ab. Wenn man bedenke, dass das Ausformulieren des Textes zur Ausarbeitung des Gutachtens gehöre, liege beim Diktieren in aller Regel ein fertiger Text vor. Das Diktieren einer Standardseite nehme dann nach den Erfahrungen des Senats etwa fünf Minuten bei langsamer Sprechweise und Mitdiktieren der Satzzeichen in Anspruch. Beim Zeitaufwand für das Korrigieren sei zu berücksichtigen, dass ein häufig eingesetzter Sachverständiger üblicherweise eine eingearbeitete Schreibkraft beschäftige, die sich mit den verwendeten Fachbegriffen auskenne. Außerdem gebe es heute in jedem PC Korrekturprogramme, die schreibtechnische Fehler anzeigen würden. Demgemäß erhalte der Sachverständige in aller Regel schon einen Text, der von schreibtechnischen und Zeichensetzungsfehlern weitgehend frei sei. Selbst wenn beim Korrigieren noch kleinere Umformulierungen und Ergänzungen oder sprachliche Verbesserungen anfallen, würden in der Regel nicht mehr als weitere fünf Minuten pro Seite benötigt. Daher sei die Annahme des Kostenbeamten, dass ein Gutachter üblicherweise sechs Seiten in einer Stunde diktiere und korrigiere, begründet.
Sachverständigenpraxis
Die vorliegende Entscheidung stellt sehr genaue Erfahrungswerte für die Vergütung von Sachverständigen in der Sozialgerichtsbarkeit auf. Dabei setzt sich das Gericht entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.07.2007, Az.: 1 BvR 55/07) äusserst sorgfältig mit dem geltend gemachten Arbeitsaufwand des Sachverständigen auseinander. Da auch in Bau- und Architektensachen die „erforderliche Zeit“ häufig zu Auseinandersetzungen führt, sollte ausgehend von dieser Entscheidung auch dort versucht werden, Grundsätze für die erforderliche Zeit für das Aktenstudium sowie für die Ausarbeitung, das Diktat und die Korrektur des Gutachtens zu erarbeiten. Selbstverständlich werden bei der Festsetzung der Vergütung die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls immer angemessen zu berücksichtigen sein. Zudem benötigt ein mit der täglichen Durchsicht von Gerichtsakten nicht vertrauter Sachverständiger häufig länger als ein lesegeübter Richter. Um Konflikte mit Kostenbeamten zu vermeiden, ist es empfehlenswert, dass der Sachverständige die Daten und Zeiträume der einzelnen Arbeitsschritte (auf einem entsprechenden Formular) notiert, um diese Unterlage dem Gericht im Falle einer Auseinandersetzung vorlegen zu können. Bei der Überprüfung ist dann grundsätzlich von der Richtigkeit der Angaben des Sachverständigen auszugehen, wenn der berechnete Zeitaufwand im Verhältnis zur erbrachten Leistung nicht ungewöhnlich hoch erscheint.
Datum
2012