OLG Naumburg – Verwertung von Gutachten aus anderen Verfahren nach § 411a ZPO auch ohne Einverständnis der Parteien! (Urteil vom 12.01.2010, AZ.: 1 U 77/09)

Leitsätze der Entscheidung

  • Es ist nicht vom Einverständnis der Prozessparteien abhängig, ob ein Gutachten aus einem anderen Verfahren nach § 411 a ZPO verwertet wird.
  • Bei der Ausübung des diesbezüglichen Ermessens des Gerichts kommt es maßgeblich darauf an, ob die Einholung eines neuen Gutachtens bessere Erkenntnisse über die Beweisfragen verspricht oder nicht.

Sachverhalt / Entscheidung

In einem Schadensersatzprozess vor dem Landgericht Magdeburg nahm der Kläger mehrere Beklagte in Anspruch. Die Klage wurde unter Verwertung eines Sachverständigengutachtens aus einem vorangegangenen Ermittlungsverfahren abgewiesen. Eine Ergänzung des Gutachtens sei trotz der inhaltlichen Einwendungen des Klägers nicht erforderlich gewesen. Demgegenüber habe der Kläger eine mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht beantragt. Der Kläger legte gegen diese Entscheidung Berufung ein. Die Beschränkung auf die Verwertung des Gutachtens aus dem Ermittlungsverfahren sei unzulässig, weil er, der Kläger, dieser Verwertung widersprochen habe, insbesondere hinsichtlich der fehlerhaften tatsächlichen Grundlagen dieses Gutachtens.

Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg (Urteil des OLG Naumburg vom 12.01.2010, AZ.: 1 U 77/09). Die Kammer und ihr folgend der Senat stützten sich im Kern auf ein Gutachten aus einem Ermittlungsverfahren. Dieses war im Auftrag der Staatsanwaltschaft wegen des streitgegenständlichen Vorfalls eingeholt worden und Bestandteil der beigezogenen Ermittlungsakte. Die Verwertung des Gutachtens sei nach § 411 a ZPO in zulässiger Weise erfolgt. Insbesondere habe die Kammer ihr durch § 411 a ZPO eingeräumtes Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt. Das Gutachten befasse sich mit den streitgegenständlichen Beweisfragen. An der fraglichen Qualifikation des Sachverständigen bestünden keine Zweifel. Das Gutachten sei auf der Grundlage aller Erkenntnisse des Ermittlungsverfahrens erstattet worden. Dies zeige sich auch in der umfangreichen Wiedergabe des Akteninhaltes durch den Sachverständigen. Weitere Erkenntnisse über das tatsächliche Geschehen seien nach der Erstattung des Gutachtens nicht mehr gewonnen worden. Insbesondere beziehe sich auch der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit allein auf tatsächliche Umstände, die er aus der vorgenannten Ermittlungsakte kennengelernt habe.

Der Verwertung des Gutachtens stehe nicht entgegen, dass der Kläger dieser Verwertung widersprochen und die Einholung eines weiteren Gutachtens begehrt habe. Dieser Widerspruch sei bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen gewesen. Dies sei geschehen. Anders als bei der nach alter Rechtslage nur möglichen Verwertung eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren im Wege des Urkundsbeweises sei die Verwertung als Gutachten nach § 411 a ZPO nicht vom Einverständnis der Prozessparteien abhängig. Für die Ermessensausübung sei maßgeblich, ob die Einholung eines neuen Gutachtens bessere Erkenntnisse über die Beweisfrage verspreche oder nicht. Das habe die Kammer hier nachvollziehbar verneint. Das in zweiter Instanz wiederholte und vertiefte Argument, wonach der Sachverständige im Ermittlungsverfahren den zeitlichen Verlauf des Geschehens verkannt bzw. unzureichend berücksichtigt habe, sei nachweislich unzutreffend. Der Sachverständige habe die Zeugenaussagen, auf die sich der Kläger beziehe, zum Teil sogar wortwörtlich in seinem Gutachten ausgeführt und in seine Bewertung einbezogen, in dem er deren Inhalt als wahr unterstellt habe. Er sei damit genau von demjenigen Sachverhalt ausgegangen, den der Kläger behaupte.

Sachverständigenpraxis

Zwei Wochen nach der voranstehend zusammengefassten Entscheidung des OLG Naumburgs hat das OLG Bamberg noch eine Entscheidung zur alten Rechtslage getroffen (vgl. Urteil des OLG Bamberg vom 27.1.2010, Az.: 3 U 28/08). Danach konnte ein in einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren erstelltes Gutachten nur im Wege des Urkundsbeweises im Zivilprozess verwertet werden. Widersprach in diesem Fall die durch das Gutachten belastete Partei der Verwertung des Gutachtens und beantragte sie die Anhörung des Sachverständigen, so war die Anhörung des Sachverständigen geboten.

Demgegenüber zeigt die Entscheidung des OLG Naumburg, dass, anders als nach alter Rechtslage, bei der Verwertung eines Gutachtens im Wege des Urkundsbeweises die Verwertung als Gutachten nach § 411 a ZPO nicht vom Einverständnis der Prozessparteien abhängig ist. Nach § 411 a ZPO „kann die schriftliche Begutachtung durch Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden“. § 411a ZPO verlangt weder eine Parteiidentität noch eine Deckung der Beweisthemen, auch wenn diese Umstände bei der Ermessensausübung von Bedeutung sind. Dabei ist umstritten, ob eine solche Verwertung eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren sinnvoll ist und einen wesentlichen Gewinn gegenüber der Verwertung des früheren Gutachtens als Urkunde bringt. Bei der Ermessensausübung muss das Gericht des Weiteren beachten, ob das Gutachten den formalen Anforderungen entspricht. Auch ist zu prüfen, ob der Gutachter mit Erfolg abgelehnt worden ist, oder ob nunmehr die Gründe für die frühere Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs nicht mehr tragfähig erscheinen. Zudem ist zu prüfen, ob der Sachverständige jetzt ein Gutachtenverweigerungsrecht nach § 408 ZPO inne hat, was bei Berufung darauf die Verwertung des Gutachtens vor vornherein verhindert. Als nächstes ist darauf zu achten, aus welchen Gründen das andere Gericht das von ihm eingeholte Gutachten nicht oder nur zum Teil verwertet hat und in welchem Umfang sich die Beweisthemen decken. Außerdem kommt es darauf an, ob die von einer Partei im Beweisantritt bezeichneten Tatsachen im Gutachten vollständig behandelt worden sind und ob es wesentliche Unterschiede bei den Anknüpfungstatsachen gibt. Eine weitere wesentliche Frage ist, ob im anderen Verfahren eine Entscheidung nach Beweislast ergangen ist, wofür jetzt andere Regeln gelten. So können z. B. im Strafprozess Feststellungen oder ein Freispruch oder im Ermittlungsverfahren eine Einstellung (§ 170 Abs. 2 StPO) auf dem Grundsatz „in dubio pro reo“ beruhen. Auch ist zu untersuchen, ob die Fahrlässigkeitsmaßstäbe in den Verfahren übereinstimmen oder ob es Unterschiede gibt, z. B. weil es im Strafrecht auf die persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, im Zivilrecht aber auf einen objektiven Beurteilungsmaßstab ankommt. Maßgeblich ist für die Ermessensausübung, ob die Einholung eines neuen Gutachtens bessere Erkenntnisse über die Beweisfragen verspricht oder nicht. Schließlich ist zu berücksichtigen, ob die Rechte einer Partei z. B. mangels Beteiligung bei einem Ortstermin nicht behebbar verletzt worden sind.

Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige für die nochmalige Verwertung seines Gutachtens leider keine zusätzliche Vergütung erhält. Das JVEG sieht dies nicht vor, da der Sachverständige nach seinem Stundenaufwand gemäß §§ 8 und 9 JVEG bezahlt wird. Allein durch die zusätzliche Verwertung des Gutachtens erhöht sich der Stundenaufwand nicht. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn weitere Stunden beim Sachverständigen anfallen, z. B. weil er zur Erläuterung des Gutachtens geladen wird oder ein Ergänzungsgutachten erstellen soll. Im Hinblick auf das durch die zusätzliche Verwertung gesteigerte Haftungsrisiko sollten die entsprechenden Sachverständigen jedoch von der Weiterverwertung benachrichtigt werden, um ggfls. etwas berichtigen oder klarstellen zu können. Einen solchen Anspruch auf Benachrichtigung gibt es aber bedauernswerterweise (noch) nicht. Gegen die Regelung des § 411a ZPO dürften auch keine durchgreifenden urheberrechtlichen Bedenken bestehen, da bereits in § 45 UrhG die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken im Interesse der Rechtspflege oder öffentlichen Sicherheit für zulässig erklärt wird. Allerdings kann in Fällen der Entstellung oder groben Missinterpretation des Sachverständigengutachtens eine Verletzung des Urheber- oder auch des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Sachverständigen vorliegen.

Datum

2012