Bundesverfassungsgericht – Unzureichende gerichtliche Verfahrensförderung im Hinblick auf die Erstellung eines Sachverständigengutachtens! (Beschluss vom 23. Mai 2012, Az.: 1 BvR 359/09)

Leitsätze der Entscheidung

  • Für den Zivilprozess gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 3 GG einen wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne.
  • Gerichtsverfahren müssen in angemessener Zeit abgeschlossen werden, wobei sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer stets nach den Einzelfallumständen bestimmt.
  • Insbesondere müssen die Gerichte die Tätigkeit von Sachverständigen zeitnah überwachen; ggfls. müssen sie Bearbeitungsfristen setzen und Ordnungsgelder androhen (§ 411 Abs. 1, Abs. 2 ZPO).

Sachverhalt / Entscheidung

Die dieser Entscheidung zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde betraf die Verfahrensdauer eines Zivilprozesses. Der Beschwerdeführer erhob im Jahre 2003 vor dem Landgericht eine Schadensersatzklage. Nachdem mehrfach mündlich verhandelt und ein Sachverständigengutachten eingeholt worden war, wurde im Jahre 2005 ein weiterer Sachverständiger mit einem Gutachten beauftragt. In der Folgezeit versäumte es der Beklagte, dem Sachverständigen notwendige Unterlagen innerhalb der vom Gericht formlos gesetzten Fristen zu übermitteln und einen weiteren Kostenvorschuss zu zahlen. Nach Verzögerungen bei der Fertigstellung des Gutachtens wurde dieses im Jahre 2007 erstattet. Im Herbst 2010 wurde der Rechtsstreit nach weiteren Ergänzungsgutachten durch einen Vergleich beendet. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) wegen überlanger Verfahrensdauer.

Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Zwar sei die Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht mit dem Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar. Das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Ziel des Beschwerdeführers, eine Entscheidung in dem fachgerichtlichen Klageverfahren zu beschleunigen, habe sich jedoch erledigt, nachdem der Rechtsstreit beendet worden sei. Damit sei für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auch das Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Die Dauer des zivilgerichtlichen Verfahrens von über sieben Jahren genüge nicht den Anforderungen von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Für bürgerlich rechtliche Streitigkeiten gewährleiste Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen wirkungsvollen Rechtsschutz im materiellen Sinne. Die Fachgerichte müssten Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss bringen. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens sei stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen; weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würden in ihrer Rechtsprechung insofern allgemein gültige Zeitvorgaben machen.

Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauere, seien insbesondere die Natur des Verfahrens und die Schwierigkeit der Sachmaterie, die Bedeutung der Sache und die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Parteien zu berücksichtigen sowie das ihnen zuzurechnende Verhalten, vor allem Verfahrensverzögerungen. Im Hinblick auf Verzögerungen durch die Tätigkeit von Sachverständigen müssten die Gerichte die gutachterliche Tätigkeit zeitnah überwachen und gegebenenfalls gemäß § 411 Abs. 1 und 2 ZPO Bearbeitungsfristen setzen und Ordnungsgelder androhen.

Gemessen an diesen Voraussetzungen sei die Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht mit dem Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz unvereinbar. Zwar sei zu berücksichtigen, dass der Rechtsstreit in tatsächlicher Hinsicht komplex und in der Verfahrensführung aufwändig gewesen sei. Es mussten mehrere Sachverständigengutachten nebst Ergänzungsgutachten eingeholt werden. Das Gericht habe trotz dieser Schwierigkeiten durch Beweisbeschlüsse, Stellungnahmefristen und Fortsetzungstermine zunächst eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Verfahrensförderung erzielt. Nach Aktenlage würden sich aber Verzögerungen im weiteren Prozessverlauf ergeben, die mit den Schwierigkeiten der Rechtssache nicht erklärt werden könnten und die auch nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen seien. Unter anderem sei das zweite Gutachten erst mehr als zwei Jahre nach dem Beweisbeschluss vorgelegt worden. Grund dafür sei zum einen gewesen, dass der Beklagte die notwendigen Unterlagen anfangs nicht zur Verfügung gestellt und den weiteren Kostenvorschuss verspätet überwiesen habe. Mangels Fristsetzung durch Beschluss gemäß § 356 ZPO blieben diese Fristversäumnisse jedoch beweisrechtlich ohne Folgen. Zum anderen habe sich die Erstellung des Gutachtens selbst verzögert, ohne dass das Gericht die prozessualen Möglichkeiten des § 411 Abs. 1 und 2 ZPO genutzt und dem Sachverständigen Bearbeitungsfristen gesetzt oder unter Nachfristsetzung die Festsetzung eines Ordnungsgelds angedroht habe. Insofern habe das Landgericht das Verfahren nicht in ausreichendem Maße betrieben und gefördert. Insbesondere habe sich mit zunehmender Dauer des Verfahrens auch die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen, verdichtet.

Sachverständigenpraxis

Die vorliegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt jedem Sachverständigen eindringlich vor Augen, dass in Zukunft mit einer deutlichen Zunahme an Fristsetzungen für die Erstellung von Gutachten zu rechnen ist. Bereits seit Ende 2006 ist aus der entsprechenden „Kann-Vorschrift“ eine „Soll-Vorschrift“ geworden, die in § 411 Abs. 1 ZPO nunmehr folgendermaßen lautet:

„Wird schriftliche Begutachtung angeordnet, soll das Gericht dem Sachverständigen eine Frist setzen, innerhalb derer er das von ihm unterschriebene Gutachten zu übermitteln hat.“

Die in dieser Entscheidung enthaltenen deutlichen Worte des Bundesverfassungsgerichts leisten einen weiteren Beitrag dazu, dass die Bedeutung dieser Vorschrift für die Sachverständigenpraxis kontinuierlich wächst. Dazu kommt, dass durch das Anfang 2012 in Kraft getretene „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“ zusätzlicher Beschleunigungs- und Erledigungsdruck in den Gerichten entstanden ist. Nach diesem Gesetz kann nach vorangegangener Verzögerungsrüge mit einer Entschädigungsklage für sog. immaterielle Nachteile ein verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch von 1.200 € pro Jahr geltend gemacht werden. Doch nicht nur von den Gerichten, auch aus der Anwaltschaft ist mit zunehmendem Druck auf die Gerichtssachverständigen zu rechnen. Hierzu hat Rechtsanwalt Elsner kürzlich folgendes ausgeführt (ZfSch 2012, S. 661):

„… Aber auch Parteien und Anwälte haben ebenso ein Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung. Es ist die Aufgabe der Sachverständigen, ihre Bearbeitungszeiten erheblich zu kürzen. Denn wenn ein verkehrsanalytisches Gutachten sechs Monate dauert, dann doch nicht deshalb, weil der Gutachter solange daran arbeitet, sondern weil er zu viele Aufträge hat und erst am Ende der Zeit überhaupt anfängt, das Gutachten zu bearbeiten. Die Sachverständigen schaden sich aber selbst, wenn sie die Gutachten nicht schnell bearbeiten. Was spricht dann dagegen, wenn ein solches Gutachten schon nach Ablauf von zwei Monaten dem Gericht vorliegt? Im eigenen Interesse der Gutachter liegt deshalb eine Beschleunigung dieser Verfahrenszeiten. Wir Anwälte sollten frühzeitig Anträge nach § 411 ZPO stellen. Nur vordergründig verärgern wir damit die Sachverständigen, auf lange Sicht hilft es auch ihnen.“

Leider enthalten die voranstehenden Ausführungen keine Antwort auf die dort gestellte Frage, was in der Praxis dagegen spricht, dass Gutachten regelmäßig schon nach Ablauf von zwei Monaten dem Gericht vorliegen. Warum haben Gerichtsgutachter in vielen Bereichen denn „zu viele Aufträge“? Dies liegt nicht zuletzt daran, dass den Gerichten häufig nicht in ausreichender Zahl qualifizierte und zuverlässige Gutachter zur Verfügung stehen und sich die Aufträge deshalb auf wenige Sachverständige konzentrieren. Daher ist es dringend erforderlich, dass ein noch größerer Schwerpunkt auf die Ausbildung neuer Sachverständiger gelegt wird, verbunden mit einer angemessenen Vergütung nach dem JVEG. Auch sollten Gerichte vor Setzung einer Frist regelmäßig telefonisch mit den Sachverständigen erörtern, ob sie zur Erstattung des Gutachtens innerhalb dieser Frist in der Lage sind. So können auch überlastete Sachverständige bereits vor Erlass eines Beweisbeschlusses auf ihre Bearbeitungszeiten hinweisen oder die Beauftragung eines anderen Sachverständigen anregen.    

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Dr. Felix Lehmann, Vorsitzender Richter am Landgericht Kiel

Datum

2013