Wohnen neu denken! – Über „ein soziales Totalphänomen existentieller Art“
von Prof. D.-J. Mehlhorn, Architekt und Stadtplaner
Dass es vor allem in den größeren Städten immer weniger preisgünstige Wohnungen gibt, ist hinlänglich bekannt. Von der Bauindustrie, den Berufsverbänden und einigen Politikern wird auf die zahlreichen Bauvorschriften verwiesen, die das Bauen erschweren und vor allem verteuern würden. Unisono wird die Forderung erhoben: „Wir brauchen weniger Bürokratie beim Bauen“, so u.a. auch Bundesbauministerin Barbara Hendricks. Zugleich fordert sie die stärkere Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Abschaffung von Vorschriften und Übernahme der Baukosten durch den Staat und die Kommunen sind jedoch nur bedingt geeignet, die Kosten tatsächlich zu mindern und das „Wohnungsproblem“ in den Griff zu bekommen. Soll die bundesweite Vereinheitlichung der bisher unterschiedlichen Höhen von Treppenläufen in den LBO´n wirklich ein Beitrag sein, die Kosten zu beschränken, wie die Ministerin anregt? Der relativ hohe Standard der Wohnungen, auch der geförderten, ist ein sozialpolitischer Fortschritt, der offenbar einigen ein Dorn im Auge ist. Alle diese Vorschläge sind wohl eher geeignet, ein paar Symptome zu beheben, nicht jedoch die Lage grundlegend zu verändern. Man denke nur an die enormen Preissteigerungen auf dem Grundstücksmarkt, auf die weder Bauordnung noch Bürokratie Einfluss haben.
Es gibt seit einiger Zeit eine Reihe von Veröffentlichungen, die das „Wohnen“ grundsätzlich in den Blick nehmen und Strategien entwickeln, wie auch für Menschen mit geringem Einkommen wieder erschwinglicher Wohnraum ohne Verlust an Wohnwert geschaffen werden kann. „Denn Wohnen ist nicht nur eine dem liberalen Markt unterworfene Ware, sondern ein soziales Totalphänomen existentieller Art […] Einsparungen bei den Baukosten haben nur noch einen geringen Einfluss auf die Gesamtkosten.“ (Dömer, S. 262) Schlüsselbegriffe sind für Dömer: Partizipation (bis zu Rohbauregalen mit individuellen Ausbauoptionen), selbst bestimmter Ausbaustandard, Minderung von Wohnflächen durch Auslagerung einzelner Funktionen zugunsten von gemeinschaftlichen Räumen, Vorfertigung und Massenwohnungsbau. Dömer und seine Koautoren entwickeln in ihrem Buch eine komplexe Strategie auf der Basis einer systematischen Untersuchung von gebauten Beispielen bis hin zur Qualifizierung von bisher geschmähten Plattenbauten in Bordeaux.
„Zukunft: Wohnen“ richtet den Fokus ebenfalls auf die Wohnraumfrage, erweitert jedoch zugleich den Blick auf die Stadt als Ganzes. Die Autoren fragen nach den Anforderungen der sich verändernden Gesellschaft an zukunftsfähige Wohnungen und gehen von den in den letzten Jahren entwickelten Modellen integrativen Wohnens für Flüchtlinge aus. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Stadt auf Dauer nachhaltig und sozial organisiert werden kann. Also: weg von der Einzelhausbetrachtung hin zur sozialverträglichen, integrativen und kooperativen Stadt! Wie im ersten Buch werden konkrete Beispiele analysiert, wobei es nicht ausbleiben kann, dass sich einige wie das Ausbauhaus in Berlin von Praeger Richter Architekten oder das Magdas Hotel in Wien von AllesWirdGut ZT GmbH in beiden Büchern wiederfinden. Ergänzt werden die Beispiele durch studentische Entwürfe. Schlüsselbegriffe für eine Realisierung sind Modularisierung, Verdichtung, Transformation bestehender Wohngebäude und wiederum die Partizipation der Nutzer.
Im Vorsatz des Buches „Zukunft: Wohnen“ wird Albert Einstein zitiert. Das Zitat trifft nicht nur auf beide Bücher zu, sondern auch generell auf die aktuelle Notwendigkeit, nicht nur ein paar überflüssige Vorschriften abzuschaffen, sondern über das Wohnen wieder grundsätzlich nachzudenken: „Probleme lassen sich nicht mit den Denkweisen lösen, die zu ihnen geführt haben.“ Wie wahr – siehe oben!
AUF EINEN BLICK:
Klaus Dömer, Hans Drexler und Joachim Schultz-Gramberg:
Bezahlbar.Gut.Wohnen; Strategien für erschwinglichen Wohnraum. 295 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.
25 EUR. jovis Verlag. Berlin 2016.
Jörg Friedrich, Peter Haslinger, Simon Takasaki u.a. (Hg):
Zukunft: Wohnen; Migration als Impuls für die kooperative Stadt. 318 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.
32 EUR. jovis Verlag. Berlin 2017
16.10.2017