unterwegs zum Bauen – Ein Gespräch über Architektur mit Florian Aicher
von Prof. D.-J. Mehlhorn, Architekt und Stadtplaner
Als im Jahre 2005 der Luzerner Quart Verlag ein Buch über das Werk des Architekten Gion A. Caminada mit dem befremdlichen Titel „Cul zuffel e l´aura dado“ (rätoromanisch soviel wie „zwischen Föhn und kalten Brisen“) herausbrachte, war das sogar dem nicht architektur-affinen SPIEGEL einen zweiseitigen Artikel wert. Denn dem Architekten war es zusammen mit dem Agrarökonomen Peter Rieder gelungen, die für abgelegene Dörfer charakteristische Abwanderungstendenz in seinem abgelegenen Heimatdorf Vrin umzukehren und dem Dorf eine Zukunftsperspektive zu eröffnen. Damals lebten 280 Einwohner dort, 20 Personen mehr als kurz zuvor, was einen Einwohnerzuwachs um 8 Prozent in kurzer Zeit bedeutete. Das mag wenig spektakulär wirken, ist aber ein Hoffnungsschimmer. Nicht geringen Anteil daran hat die im genannten Buch ausführlich beschriebene neuartige Architektur, die auf die regionalen Traditionen, in besonderem Maße der Strickbauweise, ein im Schweizer Kanton Graubünden beheimateter Typ des Blockbaus, aufbaut. Caminada verharrt aber nicht im Herkömmlichen, sondern generiert unter aktiver Mitwirkung einheimischer Handwerker innovative Formen.
In dem neuen Buch „unterwegs zum Bauen“ suchen der studierte Architekt und Journalist Florian Aicher – Sohn des bekannten Grafikdesigners und Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm – und Caminada, weiterhin in Vrin lebend, zugleich an der ETH Zürich lehrend, im Dialog dem Geheimnis des eigentlich bescheidenen, aber erfolgreichen Werkes (2018 war Caminada auf der Architekturbiennale in Venedig vertreten) näherzukommen. Auf dem ersten Blick scheinen die Bauten dem „kritischen Regionalismus“ nahe zu stehen, wie diese Spielart der „modernen Architektur“ durch Kenneth Frampton definiert und von so bedeutenden Architekten wie Alvaro Siza, Tado Ando oder Peter Zumthor vertreten wird. Neben der Form mit der Bezugnahme – nicht Kopie oder Nachahmung! – auf lokale Traditionen hatte für diese Architekten immer auch die soziale Dimension allergrößte Bedeutung. Partizipation ist für Caminada keine Leerformel, sondern vor Ort gelebte Praxis, anders ginge es nicht, denn es gilt den städtischen Einflüssen etwas Eigenes entgegen zu setzen, um die eigene Identität zu erhalten. Der Architekt, der als Bauernsohn selbst auf dem elterlichen Hof gearbeitet hatte, versteht die Menschen und deren Sorgen vor Ort, für sie will er etwas bewirken und deren Heimat bewahren. Das mag in der sich zunehmend vernetzenden Welt überholt klingen, es stellt sich aber auch die Frage nach dem, was aus der Landschaft und dem Dorf und seinen Bewohnern würde, wenn man die Entwicklung dem Selbstlauf – zum Beispiel der „Kolonisierung“ durch den Tourismus – überließe.
In seinem Vorwort bescheinigt Francois Burkhardt, Gründer der bekannten italienischen Zeitschrift domus, Caminada ein „vielschichtiges, an unterschiedlichen Wissenschaftszweigen orientiertes Wissen und dieses lebendig werden [zu lassen], indem er baut, berät und lehrt, und damit beispielhaft zeigt, wie Gemeinschaften positiv beeinflusst werden können. Damit erfüllt Caminada eine Rolle, die im Berufsbild des Architekten nicht mehr vorgesehen ist: die eines Architektur- und Planungstherapeuten, ja eines Mentors.“ Caminada geht es bei umfassender Kenntnis der psychologischen Grundbedürfnissees und mittels traditioneller, teilweise vergessener Techniken und Materialien um die „Mobilisierung der Sinne“, dabei wahrt er immer den lokalen Kontext: „Die entscheidenden Dinge passieren im Lokalen, da finden wir den Halt, den wir brauchen“. Er spannt den Bogen von landesplanerischen und regionalwirtschaftlichen Überlegungen bis zum baulichen Detail. Noch wichtiger ist ihm die Vermittlung von Werten. Wenn das Funktionelle allen Ansprüchen genügt und dazu ästhetisch ist – umso besser. Nostalgikern oder Investoren, die das Regionale nur in der Wiederholung historischer Formen sehen, hält er entgegen: „Wir sollen nicht alten Bildern hinterherlaufen. Altes ist nicht besser als Neues.“ Und dass „ohne kulturelle Verankerung nichts Vernünftiges“ zustande zu bringen sei. Ein kleines Buch, das vieles zu denken gibt!
AUF EINEN BLICK:
Gion A. Caminada: unterwegs zum Bauen; Ein Gespräch über Architektur mit Florian Aicher. Hrsg. von Florian Aicher. 160 Seiten mit einem 31-seitigen, mehrfarbigen Fotoessay von Petra Steiner sowie schwarz-weiß Fotos und Illustrationen. 29,90 EUR. Birkhäuser Verlag, Basel 2018
20.09.2018