Psycho-Geographie – Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst…
Text: Prof. D.-J. Mehlhorn, Architekt und Stadtplaner
Weshalb Menschen in einem Restaurant lieber am Rande – mit einer Wand im Rücken – Platz nehmen, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Es scheint sich um einen atavistischen Urtrieb zu handeln: Es könnte ja jemand von hinten kommen und man sei dadurch in einer besseren Ausgangslage, sich zu verteidigen.
Es hat immer wieder Versuche gegeben zu erkunden, wie das Verhalten des Menschen durch räumliche und bauliche Faktoren beeinflusst wird: im Positiven wie im Negativen. Die Literatur hierzu ist unerschöpflich und nicht immer leicht zugänglich, häufig auch schwer lesbar. Es liegt nun ein kleines, locker geschriebenes Buch vor, das auf verblüffend einfache Art die äußeren Einflussfaktoren auf menschliches Verhalten erklärt, ohne jemals ins Triviale abzugleiten. Der Autor ist gem. Klappentext Neurowissenschaftler und Experimentalpsychologe, lehrt an der kanadischen University of Waterloo und leitet dort das Urban Realities Laboratory, eine interdisziplinäre Einrichtung, die kognitive Neurowissenschaften und Stadtplanung miteinander verbindet.
In sieben Kapiteln gibt er Einblick in seine Forschungstätigkeit und beschreibt anhand vieler praktischer Beispiele, wie Architektur und Stadtbild menschliches Empfinden und Verhalten konkret steuern und welche Faktoren für das Wohlbefinden oder dessen Gegenteil maßgeblich sind. Im Einzelnen beschäftigt er sich mit der Natur im Raum, Orten der Langeweile, der Lust und Langeweile, Räumen der Angst und Ehrfurcht sowie dem Zusammenhang von Raum und Technologie, konkret um die „Welt in der Maschine“ und die „Maschine in der Welt“.
Von besonderem Interesse für den Rezensenten ist das Kapitel über die Langeweile, weil es in die aktuelle Diskussion über die zeitgenössische Architektur eingreift. So gab es in Kiel per Leserbriefe, angeregt durch die lokale Presse, eine „Diskussion“ über Form und Gestaltung neuer Gebäude, denen man zu Recht oder Unrecht das Etikett „Klötzchenarchitektur“ anheftete. Mit Blick auf die funktional und gestalterisch als wohltuend empfundene Vielfalt alter Städte artikulierte sich dabei ein massives, aber recht diffuses Unbehagen vieler Leser an der Erscheinungsform heutiger Städte und Gebäude.
Einem Wissenschaftler wie Ellard kann das nicht genügen, er versucht vielmehr an konkreten Beispielen herauszufinden, wie Menschen reagieren, wenn sie auf eine als angenehm oder langweilig empfundene Situation stoßen. Die Probanden seiner Experimente tragen Armbänder, mit deren Hilfe die Hautleitfähigkeit gemessen wird, um zu erfahren, „wie es um die vegetative Erregung der Träger, um ihre Wachheit und ihre Bereitschaft zu handeln oder auf eine Bedrohung zu reagieren bestellt ist.“ (S. 147) An einem Testort (u.a. ein ödes, nach außen abgeschlossenes Einkaufszentrum) war der Erregungszustand auf niedrigem Niveau, die Leute waren gelangweilt und unzufrieden. An einem anderen, trubeligen Ort waren sie animiert und in Plauderlaune. Orte mit hoher Informationsdichte und gestalterischer Vielfalt werden deshalb gern aufgesucht, andere möglichst schnell verlassen – messbar an der unterschiedlichen Laufgeschwindigkeit um die „unangenehme Monotonie der Straße so rasch wie möglich hinter sich zu bringen“, worauf auch schon Jan Gehl hingewiesen hatte (zit. auf S. 148). Das mag vielfach bekannt sein. Aber Langeweile kann auch zu Zuständen hoher Erregtheit führen oder sogar von Stress begleitet sein, was sich in erhöhter Herzfrequenz und abnehmender Hautleitfähigkeit und sogar erhöhtem Cortisol-Pegel äußert. Letzterer ist ein wichtiges Symptom für zahlreiche stressbedingte Krankheiten wie Schlaganfall, Herzleiden und Diabetes. Sogar bei Tierversuchen konnte nachgewiesen werden, dass die Auseinandersetzung mit einer informationsreichen komplexen Situation der kognitiven Entwicklung förderlich ist. Spartanische Verhältnisse bewirken dagegen ein impulsives und maladaptives, sogar riskantes Verhalten. Ellard stellt aber zugleich beruhigend klar, dass sicher „eine kurze Begegnung mit einem langweiligen Gebäude noch kein ernsthaftes Gesundheitsrisiko“ sei, stellt aber die entscheidende Frage: „…wie verhält es sich mit der kumulativen Wirkung, wenn man Tag für Tag in dieselbe bedrückende Umgebung hineingezwängt wird?“ (S. 158)
Dieses ist nur ein Aspekt des überaus interessanten Buches, das anregen will, noch mehr als bisher über die Wirkung des Gebauten auf die Nutzer nachzudenken und tatsächlich wieder Städte und Gebäude mit „optimaler Komplexität“ so zu gestalten, dass sie den emotionalen Bedürfnissen der meisten Bewohner gerecht werden.
AUF EINEN BLICK:
Colin Ellard: Psycho-Geografie; Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst. 351 Seiten. 22,00 EUR. btb-Verlag. München 2017
22.06.2018