Fahr Rad
von Prof. D.-J. Mehlhorn, Architekt und Stadtplaner
Als im 19. Jahrhundert das Auto erfunden wurde und dieses den Verkehr mit Pferdewagen inklusive Gestank und Lärm abzulösen begann, galt es als zivilisatorische Leistung, die Städte vor dem zunehmenden Verkehr zu retten. Heute wissen wir es besser: Vor allem der motorisierte Individualverkehr ist ein wesentlicher Verursacher der globalen Umweltverschmutzung und massiver Probleme vieler Städte. Auch die Feuilletons großer Wochenzeitschriften stellen die besorgte Frage, ob es eigentlich nicht auch anders ginge? (DIE ZEIT, 28.06.2018). Im Fokus des allgemeinen Interesses steht dabei die Förderung des Radverkehrs. Wer in letzter Zeit im Fernsehen Filme zum Thema „Verkehrswende“ gesehen hat, konnte sehen, wie die Kopenhagener selbst bei Eiseskälte das Fahrrad benutzen. Es waren wetterresistente Personen zu sehen, die mit eisverkrusteten Bärten zur Arbeit fahren und allem klimatischem Unbill trotzen. Nicht zu sehen war allerdings, wie sie am Ziel sich von Eis und Schmutz befreiten und in den Büroalltag einstiegen. Gab es dort eine Enteisungsvorrichtung oder wie befreiten sich die Radfahrer von Dreck und Eis? Nicht wenige Reporter berufen sich auf Jan Gehl, der weltweit als einer der Vorreiter für eine andere, humane Stadt- und Verkehrspolitik gilt. Es wundert nicht, dass er auch in diesem Buch zu Wort kommt.
Noch bis zum 2. September 2018 zeigt das DAM Deutsches Architektur Museum in Frankfurt am Main eine sehenswerte Ausstellung, die sich mit der Entwicklung des Radverkehrs in ganz Europa beschäftigt. Wer nicht zur Ausstellung fahren kann (mit Rad?) oder will, hat die Möglichkeit, sich mit dem hier rezensierten, ansehens- wie auch lesenswerten Buch zu beschäftigen.
Kern der Publikation sind die Darstellungen von vorbildlichen Städten, natürlich Kopenhagen, aber auch Karlsruhe, Oslo, Barcelona und Portland mit klugen Beschreibungen, schönen Bildern und informativen Plänen. Die Betrachtung so schön gestalteter Radwege wie in Portland (Max Orange Line in Portland, S. 124 ff.) oder kühner Brückenbauwerke in Kopenhagen (Butterfly- und Åbuen-Brücke, S. 152 ff.) kann schon neidisch machen, vergleicht man diese mit der hiesigen Situation. Ergänzt werden diese Highlights durch kurzgefasste Beiträge weiterer Projekte zwischen Amsterdam (S. 184) und Xiamen in China (S. 268). Man sieht: Das Radfahren ist weltweit eine Alternative zum Auto!
Gegenüber dem Ausstellungsbesucher hat der Leser des Buches den Vorteil, sich auch über kleinere Essays mit grundsätzlichen Fragen des Stadtverkehrs und speziell die Substituierung des Autos durch das Fahrrad zu beschäftigen: Thomas Kosche beschreibt die Geschichte des bei seiner Einführung noch als „Störung der öffentlichen Ordnung“ geltenden Fahrrads. (S. 22ff.). Kees Christiansen schildert seine Erfahrungen als Radfahrer (S. 50ff.), Barbara Lenz stellt die Frage, wem der öffentliche Raum gehöre (S. 62 ff.). Allgemeiner werden Ludger Koopmann und Ulrike Reutter, die das Fahrrad als Schlüssel zur urbanen Verkehrswende beschreiben (S. 98 ff. und S. 142 ff.) und Christiane Thalgott, frühere Stadtplanerin von Norderstedt, Kassel und München, stellt sicher zu Recht fest, dass noch viel zu tun sei. (S. 118) Aufschlussreich ist auch ein Interview mit Jan Gehl, in dessen humanistischen Weltbild Radfahrer eine Art von Personen sind, die nur etwas schneller als andere Menschen sind. Durch ihre stete Präsenz im Straßenraum beleben sie diesen und bilden ein wesentliches Element einer vitalen Stadt. (S. 172 ff.)
Die großartigen und, faszinierenden, die jeweiligen Städte und Landschaften durchquerenden Fahrradtrassen lassen allerdings die Probleme des Alltags (wie kommt ein Kind gefahrlos zur Schule oder eine ältere Person zum Seniorenclub?) in den Hintergrund treten. Die Vernetzung der quartiers- und stadtteilbezogenen Wegenetze mit den Schnelltrassen ist ein Gebot der Verkehrsgerechtigkeit, aber sicher bei Weitem nicht so spektakulär, wie die publizierten Beispiele. Nicht ganz verständlich ist die Aufnahme zahlreicher längst fertiggestellter Fahrradanlagen in die Liste von Projekten (gem. Duden: „Entwurf, Vorhaben“). Nichtsdestotrotz: ein schönes Buch, das auf den Tisch jedes Stadt-und Verkehrsplaners sowohl Kommunalpolitikers gehört, und eine imperative Anregung für alle ist: „Fahr Rad!“
AUF EINEN BLICK:
Annette Becker, Stefanie Lampe, Lessano Negussie und Peter Cachola Schmal (Hg.): Fahr Rad!, Die Rückeroberung der Stadt. 278 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. 49,95 EUR. Birkhäuser Verlag, Basel 2018
20.09.2018