Ein nicht so ernstes Architekturbuch … oder doch?
von Prof. D.-J. Mehlhorn, Architekt und Stadtplaner
Dass die Verfallsdaten moderner Architektur immer kürzer werden, hat sich vermutlich inzwischen herumgesprochen. Man denke nur an den Palast der Republik in Berlin-Mitte: Baubeginn 1976, Abbruch trotz Denkmalschutz 2003. In Kiel blieben dem Woolworth-Haus 26 Jahre, dem Haus der Kirche in der Eggerstedtstraße nicht einmal so viele. Das ist inzwischen Alltag, man beginnt sich daran zu gewöhnen…
Spektakulärer sind dagegen die Projekte, die Biamonti – Architekt und Dozent für Design an der Polytechnischen Hochschule Mailand – gesammelt hat. Es handelt sich dabei um hypertrophe Bauwerke, auf die man sicher gern verzichten kann – wären sie doch niemals gebaut worden! Wie Kowloo Walled City in Honkong, eine Agglomeration von 300 Hochhäusern für 33.000 Personen – angeblich ohne Architekten und Ingenieure, wer waren die Verantwortlichen? Oder Neft Dashlari in Aserbaidschan, eine kleine Stadt mitten im Kaspischen Meer, 42 km von der Küste entfernt. Ähnlich Hashima in Nagasaki – hier erfolgte die Ansiedlung von Minenarbeitern auf einer bis dahin unbewohnten Insel mit einer Bevölkerungsdichte von 3.250 EW/ha! Die Siedlung wurde schließlich mit Schließung der Mine aufgegeben. Es gibt aber auch die Spekulationsobjekte wie die Nova Cidade de Kilambia in Luanda/ Angola: eine von den Chinesen aus dem Boden gestampfte Wohnstadt mit etwa 2800 Wohnungen – 300 sind davon bisher bewohnt, eine Geisterstadt oder ein Überangebot an Wohnraum, von dem die Wohnungsdezernenten unserer Städte nur träumen können. Auch andere chinesische Siedlungen, nicht selten als Kopien europäischer Städte, einschließlich Eiffelturm und Champs Élysées, bleiben leer und werden allmählich durch Baracken und Wohncamps überformt.
Nicht fertig gestellt wurden der Abraham-Lincoln-Turm in Rio de Janeiro oder das Ryugyong-Hotel in Pjöngjang/Norkorea. Eine Fehlplanung der 1980er Jahre war die Metrolinie Chátelet in Charleroi/Belgien, deren Bahnhöfe nie einen Passagier gesehen haben und vor sich hinrotten. Zu denken geben die einst viel gepriesenen Vergnügungsparks, Einkaufszentren oder Hotels, die kurz nach Fertigstellung ihren Glamour verloren hatten und geschlossen werden mussten.
In Deutschland ist es u.a. der Spreepark in Berlin, in den USA Cinderella City Mall in Englewood, in Japan Nara Dreamland in Nara/Japan. Man müsste vielen dieser Projekte, die mit obskuren Investoren, mit oder ohne Architekten, gegen alle Regeln der Baukunst und des Baurechts errichtet worden sind, keine Träne nachweinen, wüsste man nicht, dass sie nicht selten von staatlichen Stellen hingenommen oder sogar gefördert wurden und welche ökonomischen und humanen Ressourcen dadurch vergeudet worden sind. Einige der dokumentierten Projekte haben sich durch ihren morbiden Charme inzwischen zu attraktiven Szenerien für Film und Fernsehen und zu Touristenmagneten entwickelt. Man wüsste gern, welche Projekte Biamontis auf seiner sicher umfangreichen Tentativliste für eine Neuauflage seines Buches hat. Schleswig-Holstein ist bisher noch nicht dabei.
Biamonti listet nicht nur gescheiterte Projekte auf und schildert deren Genese, sondern fordert zugleich auf, Probleme als Chance für eine Neunutzung zu begreifen. Ja, es gibt Vorschläge dafür wie z.B. ein marodes Hochhauses in Mailand zum vertikalen Stadtpark umgestaltet werden könnte – nur Pech, dass es private Eigentümer hat und jene sicher andere Interessen haben. Gleichwohl ein interessantes Buch über die Kurzlebigkeit heute, scheinbar unverzichtbarer, morgen schon obsoleter Ansprüche.
AUF EINEN BLICK:
Alessandro Biamonti: ArchiFlop, Gescheiterte Visionen;
Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur.
191 S. mit zahlreichen Abb. 29,95 EUR.
DVA Deutsche Verlags-Anstalt.
München 2017
16.10.2017